zweifelsFREI Ich

Die Schwes­ter mei­ner Mut­ter war eine Meis­te­rin im Zwei­feln. In ihrer Nähe zu sein war mir immer irgend­wie unheim­lich. Ich fürch­te­te mich vor ihren Aus­sa­gen. An allem und jedem hat­te sie etwas aus­zu­set­zen. Kei­ner konn­te es ihr recht machen. Trotz­dem — oder viel­leicht auch gera­de des­we­gen — ver­such­te ich immer wie­der, mit ihr in Kon­takt zu kommen. 

Bei einem der sel­te­nen Besu­che — ich fühl­te mich auch in ihrem Haus nicht wohl — war ich über­rascht, wie gut sie aus­sah. Spon­tan und ohne nach­zu­den­ken sag­te ich zu ihr: „Du siehst rich­tig gut aus heu­te!“ Anstatt sich dar­über zu freu­en, fuhr sie mich an: „Was fällt dir ein, mich so bloß­zu­stel­len! Du willst mir damit wohl sagen, dass ich zu dick bin!“ Ich war tief betrof­fen, so miss­ver­stan­den zu wer­den, und ver­such­te ihr noch eini­ge Zeit zu erklä­ren, dass ich das ganz ehr­lich gemeint hät­te. Doch was ich auch sag­te, es mach­te alles immer nur noch schlim­mer. Ich konn­te es nicht fas­sen, dass sie auf mei­ne lie­be­vol­le Zuwen­dung mit so viel Hass reagier­te. Es war das letz­te Mal, dass ich ver­such­te, an sie heranzukommen. 

„Gott sei Dank ist mei­ne Mut­ter da ganz anders“, dach­te ich. 

In mei­nen Augen war mei­ne Mut­ter eine star­ke und selbst­be­wuss­te Frau. Sie führ­te das Unter­neh­men mei­nes Vaters, mach­te schon früh den Füh­rer­schein — was in den 60er Jah­ren für eine Frau am Land noch sehr unge­wöhn­lich war — und drück­te immer klar und unmiss­ver­ständ­lich aus, was ihr gefiel und was nicht. Zuge­ge­ben, meist nur das, was ihr nicht gefiel. 

Als Kind war ich sehr beein­druckt von ihr.  Dass eine Mut­ter-Toch­ter-Bezie­hung lie­be­vol­ler sein kann, wuss­te ich noch nicht. Zwei­fel konn­te ich kei­ne an ihr ent­de­cken, dazu war mir wohl der Halt, den sie mir gab, zu wichtig. 

Erst als ich älter wur­de und sta­bi­ler in mir selbst, fiel mir auf, dass sie ande­re benut­ze, um ihre Ent­schei­dun­gen zu recht­fer­ti­gen. Mein Vater war dafür ein dank­ba­res Objekt. Als sie mich dann zuneh­mend ins Ver­trau­en zog, je älter ich wur­de, sah ich ihr kom­pli­zier­tes Spiel, das dar­auf hin­aus­lief, auf Kos­ten ande­rer gut dazu­ste­hen. Dafür ent­warf sie die krea­tivs­ten Stra­te­gien. Wie ein Spin­nen­netz, in dem sich jeder und jede ver­fan­gen konn­te, der nicht an ihre guten Absich­ten glaub­te. So auch ich. Erst viel spä­ter wur­de mir bewusst, dass der Motor die­ser Spie­le Zwei­fel war.

„Gott sei Dank bin ich anders“, dach­te ich. 

Schließ­lich konn­te ich ja mei­ne Tan­te und mei­ne Mut­ter durch­schau­en, fand auch bald Erklä­run­gen dafür und war als Psy­cho­the­ra­peu­tin sowie­so schon a prio­ri von allem befreit, womit sich ande­re her­um­schla­gen müs­sen. So dach­te ich und war über vie­le Jah­re sehr zufrie­den mit mir. Zumin­dest, was die­ses The­ma betraf. 

Wer immer mich um Hil­fe bat, bekam die­se, eini­ge auch ohne mich dar­um gebe­ten zu haben. Schließ­lich kann­te ich mich aus, wuss­te, was rich­tig und was falsch war. Das ging eine zeit­lang ganz gut, bis ich das Gefühl hat­te, dass mir etwas fehl­te. Die­ses Etwas war Ich Selbst. Die Selbst­er­for­schung führ­te mich an eine Stel­le, an der ich sehen konn­te, wie und war­um ich zu einer Exper­tin gewor­den war: aus Angst. Aus Angst vor den Emo­tio­nen ande­rer Men­schen. Men­schen, denen ich die Macht gege­ben hat­te, mir weh­tun zu können. 

Ein heil­sa­mer Schock. Das Wis­sen hat­te mir also dazu gedient, alles kon­trol­lie­ren zu kön­nen. Alles! Auch den Zugang zu mir selbst. Doch jetzt war er da und was wur­de sicht­bar? Zwei­fel! Zwei­fel an mir selbst: Bin ich o.k.? Hat das, was ich weiß, einen Wert? Ist es wahr? Ist es genug? Wer bin ich dann noch, wenn all das Wis­sen wegfällt? 

Mit einem Mal konn­te ich mei­ne Gedan­ken wie auf einer Büh­ne sehen, vor der ich selbst im Zuschau­er­raum saß, und mir wur­de bewusst: Zwei­fel sind Gedan­ken. Sie haben nur dann Kraft, wenn ich sie den­ke. Sie ent­spre­chen nicht der Wahr­heit. Ohne Gedan­ken gibt es sie nicht. Ist es still auf der Büh­ne und somit im Kopf, taucht die­ses über­wäl­ti­gen­de Gefühl einer nie da gewe­se­nen Frei­heit in mir auf. 

„Ich hab’s geschafft! Ich bin frei!“, den­ke ich. 

 

Zuerst erschie­nen auf story.one