Lieber tot als ernst

„Hei­le, hei­le Gäns­chen, es ist bald wie­der gut, das Kätz­chen hat ein Schwänz­chen, es ist bald wie­der gut, hei­le, hei­le Mau­se­speck, in hun­dert Jahr ist alles weg“, singt mei­ne Mut­ter, beugt sich über mein blu­ten­des Knie und bläst auf die Wun­de. Wäh­rend ich zum wie­der­hol­ten Male zu ver­ste­hen ver­su­che, war­um ich hun­dert Jah­re war­ten muss, bis alles gut ist, ver­ges­se ich den Schmerz.

Oma sitzt im Flur des alten Bau­ern­hau­ses auf einem Sche­mel, schwarz geklei­det, am Kopf ein Tuch, das nach hin­ten gebun­den ist. Kopf und Ober­kör­per sind über ein Lavoir gebeugt, aus ihrer Nase tropft hell­ro­tes Blut in die wei­ße Email­schüs­sel. Plopp…. plopp…. plopp… Im Raum herrscht Totenstille.

Ich bin in die­se Sze­ne hin­ein­ge­platzt und wage es nicht, mich zu bewe­gen. Obwohl Oma ganz ver­sun­ken wirkt, scheint sie auf mich als Zuschaue­rin gewar­tet zu haben. Ich darf sie nicht stö­ren, aber ich soll blei­ben. Das sagt mir mein Gefühl.

Vater lei­det. Dies­mal ist es ernst. Dies­mal sei er wirk­lich dem Tode nah, sagt er. Er wis­se es sicher, denn sol­che Schmer­zen kön­ne man nur haben, wenn etwas Ernst­haf­tes im Kör­per zugan­ge sei. Er legt sich auf sein Bett zum Ster­ben. “Was wirst du machen, wenn ich tot bin? Wer­de ich dir feh­len?”, fragt er mich mit beben­der Stimme.

Auch wenn ich das nicht zum ers­ten Mal erle­be, erfasst mich die Angst, ihn zu ver­lie­ren. Ich will ihm hel­fen, sein Lei­den tei­len, damit es sei­ne Macht ver­liert. Kann ich spü­ren, was er spürt, bewei­se ich ihm — und vor allem auch mir selbst -, dass wir Ein­fluss auf unse­ren Kör­per haben. So den­ke ich und ver­stär­ke mei­ne Bemü­hun­gen, indem ich mei­nen Emp­fin­dun­gen harm­lo­se Namen — wie „Ver­span­nung“ oder ähn­li­ches — gebe, um mei­nem Vater ein Lächeln zu ent­lo­cken. Er wirkt beru­higt. Ich bin erleich­tert. Bei mei­nem nächs­ten Besuch fin­de ich das Schlaf­zim­mer leer vor. Das Ster­ben wur­de wie­der ein­mal verschoben.

Spä­ter wer­den die­se Sze­nen wie­der vor mir auf­tau­chen, wenn ich mir Schwarz­weiß-Fil­me wie „Alexis Zor­bas“ anse­he, in dem sich die Kla­ge­wei­ber in ihren schwar­zen Klei­dern krei­schend auf die Ver­las­sen­schaft der frisch Ver­stor­be­nen stür­zen. Oder wenn sich in „Der ein­ge­bil­de­te Kran­ke“ mun­ter alle an dem Spiel mit dem Tod beteiligen.

Wäh­rend ich mei­ne Groß­mutter zu ver­ste­hen ver­su­che und Wit­ze über das Ver­hal­ten mei­nes Vaters mache, ent­geht mir voll­kom­men, dass auch ich — still und lei­se — zu einer Meis­te­rin die­ses Faches wer­de. In den Jah­ren, die die­je­ni­gen, die den­ken, dar­über hin­weg zu sein, als „Puber­tät“ bezeich­nen, beherr­sche ich das Spiel bereits per­fekt. Nachts allein im Bett male ich mir aus, wie mei­ne Fami­lie an mei­nem Grab steht und um mich weint. Sie bedau­ern zutiefst, dass sie mich schlecht behan­delt und mir ihre Lie­be nicht gezeigt haben. „Zu spät!“, den­ke ich und schwel­ge in der schmerz­vol­len Freu­de über den ver­ab­säum­ten Liebesbeweis.

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