Die Geschichtenerzählerin
Seit meiner Geburt befindet sich über meinem rechten Ohr ein kreisrunder, kahler Fleck. Da ich für solche und andere Phänomene immer gerne eine Erklärung habe, findet sich auch dafür eine: Ich .. bin .. eine Zangengeburt! Eine Zange hat bei der Geburt diese Stelle kahlgeschoren. Und Maria, die Psychotherapeutin, fügt dieser Erklärung noch eine psychologische hinzu: Traumatisierung durch zu langen Aufenthalt im Geburtskanal.
Diagnose: Klaustrophobie mit Neigung zu Panikattacken.
Bei einem Urlaub in Griechenland mit Paul, meinem Mann, und unserem Sohn Martin bekommen wir in dem gebuchten Hotel am Meer ein Zimmer, dessen einziges Fenster in einen überdachten Innenhof geht. Während die Männer tief und fest schlafen, begleiten mich Gedankenmonster durch eine stürmische Nacht: „Luft! Luft!“ stöhne ich in mich hinein und denke: „Was mach ich nur, wenn plötzlich Feuer ausbricht? Wen rette ich zuerst? Wo lauf‘ ich hin? ….. Diese Hitze! … Ein Wahnsinn! Wie kann man …. bitte …. nur solche Häuser bauen??!“ Nach jedem neuen Gedanken dreht sich das Gedankenkarussell in meinem Kopf schneller. „Stopp! Stooopppp!“, rufe ich meinen Gedanken zu, doch das Karussell lässt sich nicht aufhalten.
Irgendwann geht auch diese Nacht zu Ende. Sobald ich Geräusche im Haus höre, stürme ich in die Rezeption und beschwere mich über das Zimmer. Um meinem Anliegen Nachdruck zu verleihen, schildere ich der Rezeptionistin mit bebender Stimme die Auswirkungen meines Geburtstraumas. Tief beeindruckt beginnt sie, nach einer Lösung zu suchen. Nach einigem Hin und Her verkündet sie mir freudig, dass wir gleich nach dem Frühstück in ein Zimmer mit Meerblick übersiedelt werden. Ich bin begeistert vom Ergebnis meiner Verhandlungen. „No schau“, denk‘ ich mir, „wofür so ein Trauma gut sein kann!“ Zufrieden und versöhnt mit meinem verunglückten Start in dieses Leben ziehe ich mit meiner Familie in das wunderschöne neue Zimmer ein.
Beim nächsten Besuch bei meiner Mutter schildere ich ihr dieses Abenteuer, damit auch sie die Gelegenheit bekommt, sich mit diesen dramatischen Ereignissen zu versöhnen. Sie hört mir staunend zu und sagt dann: „A Zongngeburt? Du? Wie kummst denn auf de varruckte Idee? Kans von meine Kinder wor so schnell do wie du.“
Nach einigen Sekunden der Enttäuschung muss ich schallend lachen. Jetzt habe ich eine neue Geschichte dazubekommen! Eine, die davon erzählt, wie gut ich mich selbst mit Hilfe von Geschichten durchs Leben führe – unabhängig davon, ob sie wahr sind oder nicht. Denn: Jetzt bin ich mir sicher, dass die kahle Stelle an meiner Schläfe von einer Verbrennung stammt, die beim schnellen Herausflutschen aus dem Geburtskanal entstanden ist. Diese Geschichte verheimliche ich allerdings meiner Mutter. Ich will sie behalten, zumindest eine Zeitlang.
Aus dem Buch „Mein Weg zu mir selbst, Ich-Erfahrungen“, Maria Färber-Singer 2014